Von Cornelia Bochmann

Wenn sich am Abend die Erde die Decke überzieht, klopft die Nacht an die Tür. Was laut ist wird leise, was bunt ist wird grau und manchmal kann ich die Stille in mir hören. Ich lausche ihr und höre mein Lied. Ein Lied der Träume, das mich in die Nacht begleitet und mich wegträgt in ein fremdes Land. Ein Land, irgendwo und nirgendwo zugleich. Mal hier und mal dahin, oft dorthin, wo ich am liebsten bin. Das ist die Wiese hinter dem Wäldchen. Oft liege ich dort im Gras zwischen Glockenblumen, Hirtentäschel und Löwenzahn. Der macht braune Flecken auf meinen Händen, wenn ich viele davon pflücke. Anna will einen Kranz aus Löwenzahn. Sie soll ihn haben.
Ich ziehe meine Bettdecke bis unter das Kinn, verschränke meine Arme so unter meinem Kopf, dass ich durch das nahe Fenster die Sterne am Himmel sehen kann. Bei klaren Nächten funkeln sie wie Edelsteine. Ich suche mir den hellsten aus. Das ist mein Diamant. Ich denke an das, was ich am liebsten habe. Was ist mir das Allerliebste?
Anna.
Meine Schwester ist drei Jahre alt. Ich bin schon neun. Wenn ich mich morgens auf den Weg zur Schule mache, winkt Anna mir lange nach – wenn ich zurückkomme, steht sie an der Tür, als hätte sie dort den ganzen Tag auf mich gewartet. Sie zieht ihren Mund zu einem Lachen breit: Gut, dass du wieder da bist, John, ich habe lange auf dich gewartet!
Anna kennt die Uhr noch nicht, aber sie weiß, wie die Zeiger stehen müssen, wenn ich nach Hause komme.

Der Himmel voller Sterne. Ich stehe auf, schleiche auf Zehenspitzen zur Tür, drücke die Klinke herunter und schaue durch einen Spalt zu Annas Bett. Sie liegt, in ihre Decke gewickelt mit ihrem Teddy im Arm und singt ein Lied von dem, was ihr gerade einfällt. So ist es immer.
Seit ein paar Tagen ist alles anders. Anna ist krank. Sie muss im Krankenhaus bleiben. Ich weiß nicht, was ein Tumor ist, aber ich weiß, Anna muss ihn besiegen. Bald. Ich kann ohne Anna schlecht einschlafen und der Tag beginnt morgens still. Anna fragt nicht: John, warum ist der Himmel blau? Und: John, war die Traumfee auch bei Dir? Und: John, wann kommst Du wieder? Keiner, der plappert. Keiner, der nervt, dass ich vorlesen soll. Und keiner, der an der Tür auf mich wartet, wenn ich aus der Schule komme.
Ich schaue aus dem Fenster zu meinem Stern. Bloß gut, denke ich, er ist da. Er zwinkert mir zu, als wolle er sagen: Alles wird gut, John.

Als Mama mir sagte, John, Du bekommst ein Geschwisterchen, hatte ich mich gefreut. Einen Bruder hatte ich mir schon lange gewünscht.
Dann kam Anna. Das kann man sich nicht aussuchen, John, hatte mich Mama getröstet. Sie hatte mich in den Arm genommen und mir erzählt, wie gut sie es als Kind mit ihren Brüdern hatte. Am schönsten war, hatte sie sich erinnert, wenn sie mich beschützten.
Ich kann Anna beschützen. Vor Hasso, dem Schäferhund und wenn ein Gewitter heraufzieht. Vor ihrem Tumor konnte ich es nicht.
Ich schaue zu meinem Stern und vertraue ihm. Anna wird kämpfen.



John hatte den Pfleger gebeten, das Bett in seinem Zimmer so auszurichten, dass er beim Einschlafen den Himmel sehen kann. Das Kopfteil seines Bettes lässt sich leicht schrägstellen. So kann John, ohne seinen Kopf anheben zu müssen, in glasklaren Nächten die Sterne sehen. Es dauert ein wenig, bis er seinen Diamanten gefunden hat. Er zwinkert John zu.
Gute Nacht, Anna, flüstert John.
John lauscht seinem Lied der Erinnerungen, das ihn wegträgt in ferne Länder. Manchmal auch dorthin, wo er als Kind am liebsten war. Auf der Wiese hinter dem Wäldchen hatte er eine Menge Kränze für Anna gebunden und sich braune Flecken auf seinen Händen geholt.  

 

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